Blogbeitrag vom 6. September 2024

Risky Play: Wie ich als Mutter, Physiotherapeutin und Pädagogin täglich lerne, loszulassen

 

Als Physiotherapeutin und Pädagogin stehe ich jeden Tag vor der Aufgabe, ein lebendiges Gleichgewicht zwischen körperlicher Herausforderung und Schutz für die Menschen, mit denen ich arbeite, zu finden. Als Mutter erlebe ich dieses Spannungsfeld auf der Suche nach der richtigen Balance zwischen Sicherheit und Freiheit für mein Kind nicht sehr viel anders. Gerade durch meinen Beruf weiß ich, wie wichtig Bewegung für die kindliche Entwicklung ist, körperlich, seelisch und geistig. Ich erinnere mich auch gerne an meine eigene Kindheit, an das Klettern auf Bäume, das Springen über Bäche und das unbeaufsichtigte Herumstreunen in Wald, Wiesen und der Nachbarschaft. Diese Erlebnisse haben mich nicht nur mutiger gemacht, sondern mir wichtige Lektionen fürs Leben erteilt. Gleichzeitig bin ich auch Mutter, und kenne Ängste, dass meinem Kind etwas passieren könnte. Heute möchte ich euch von meinen Erfahrungen mit dem Konzept des Risky Play erzählen und warum ich davon überzeugt bin, dass wir unseren Kindern mehr zutrauen sollten.

WAS IST RISKY PLAY?

Risky Play beschreibt Spielaktivitäten, zumeist im Freien, bei denen Kinder Risiken eingehen, ihre eigenen Fähigkeiten testen und dabei wertvolle Erfahrungen sammeln. Es gibt verschiedene Kategorien von Risky Play, die alle unterschiedliche Fähigkeiten und Fertigkeiten fördern:

  1. Höhe: Ob auf Bäume klettern oder auf hohe Klettergerüste steigen – hier lernen Kinder, ihre Balance zu halten und ihre Grenzen zu erkennen.
  2. Schnelligkeit: Rennen, Fahrradfahren oder Schlittenfahren mit ordentlichem Speed – diese Aktivitäten schulen die Reaktionsfähigkeit und sind natürlich einfach eine große Gaudi!
  3. Umgang mit Werkzeugen: Ein Kind, das ein Taschenmesser benutzt oder sogar mit Hammer und Nägeln hantiert, entwickelt nicht nur handwerkliche Fähigkeiten, sondern auch ein Verantwortungsbewusstsein für seine eigene Sicherheit.
  4. Wildes Spiel: Raufen und Toben mit anderen Kindern, oft als „Rangeln“ bekannt, hilft den Kleinen, ihre Kräfte einzuschätzen und soziale Kompetenzen zu entwickeln.
  5. Risiko des Verschwindens: Wenn Kinder sich in einem Waldstück oder auf einem großen Spielplatz frei bewegen, ohne dass sie ständig unter Aufsicht stehen, lernen sie Selbstständigkeit und Selbstvertrauen.
  6. Gefährliche Elemente: Der Kontakt mit Wasser, Feuer oder anderen Naturgewalten fordert Respekt und Vorsicht – zwei wichtige Lektionen für das Leben.

 

DIE GEFÜHLE EINER MUTTER

Als mein kleiner Sohn mir das erste Mal erklärte, er würde jetzt mit den Nachbarkindern nachhause in deren Aufstellpool schwimmen gehen, spürte ich eine Mischung aus Stolz und Unruhe. Einerseits war ich beeindruckt von seiner zunehmenden Eigenständigkeit, nachdem ich ihn lange als schüchtern und stark auf mich fixiert erlebt habe. Obwohl ich wusste, dass die Mutter der Kinder ihn tags zuvor bereits eingeladen hatte, und die Kinder beaufsichtigen würde, kreisten meine Gedanken um all die Dinge, die schiefgehen könnten. Was, wenn er unbemerkt untergeht? Was, wenn er sich verletzt? Doch dann sah ich sein Strahlen und die Freude in seinen Augen, als er seinen Roller schnappte und mir zum Abschied noch kurz zuwinkte. Das gab mir den Mut, innerlich einen Schritt zurückzutreten und ihn vertrauensvoll gewähren zu lassen. Die Kinder im Alter von 4-10 bis Jahren sprangen auf ihre Roller und fuhren das Sträßchen entlang bis zum Nachbarhaus, wo sie lachend gemeinsam hinter dem Thujenzaun verschwanden.

FACHLICHE PERSPEKTIVEN

In meiner Arbeit als Physiotherapeutin sehe ich immer mehr Kinder, die an Übergewicht leiden, sich nur ungern bewegen oder Angst vor körperlichen Herausforderungen haben. Diese Kinder haben oft nicht genug Gelegenheit bekommen, ihre motorischen Fähigkeiten frei und unbeschwert zu entwickeln, und ausdauernd körperlich aktiv zu spielen. Risky Play ist daher nicht nur ein Abenteuer, sondern auch ein wichtiger Beitrag zur körperlichen, seelischen und geistigen Entwicklung unserer Kinder. Es stärkt ihre Muskeln, verbessert die Koordination, fördert die Resilienz und reduziert Ängste. Die pädagogische Grundhaltung zum Kind, ob ich ihm oder ihr etwas zutraue, es als kompetent und resilient einschätze, oder als jemanden, der oder die in erster Linie verletzlich ist, und welches es vor allen möglichen Risiken zu bewahren gilt, beeinflusst natürlich das Bewegungsverhalten des Kindes.

RECHTLICHE ÜBERLEGUNGEN

Natürlich haben Eltern auch eine Aufsichtspflicht, und es gibt Empfehlungen und Vorschriften, um schwere Unfälle tatsächlich zu vermeiden. Es gibt einen Unterschied zwischen ein Kind ein Risiko eingehen und es meistern zu lassen, oder es einer tatsächlichen Gefahr auszusetzen. Zweiteres gilt es natürlich zu verhindern! Nur sollten uns abstrakte Ängste vor juristischen Folgen nicht davon abhalten, unseren Kindern die Möglichkeit zu geben, sich auszuprobieren, und spielerisch jene Fähigkeiten zu erwerben, die sie später im Erwachsenenleben benötigen. Eltern und Pädagog:innen können Kindern als Mentor:innen beim Spielen im Freien dienen, und einen Rahmen schaffen, in dem Kinder mit Freude ihrer Neugierde und ihrem Tatendrang nachgehen können, altersgerechte Risiken meistern, und ernsthafte Gefahren erkennen und vermeiden lernen. In meiner Praxis ermutige ich Pädagog:innen, Eltern und Großeltern, die ihnen anvertrauten  Kinder – mit und ohne Behinderungen – in kontrollierten Umgebungen neue Erfahrungen machen zu lassen – sei es auf dem Spielplatz, im Wald oder im eigenen Garten.

Es gibt einen Unterschied zwischen EIN KIND EIN RISIKO EINGEHEN UND MEISTERN ZU LASSEN, oder ES EINER TATSÄCHLICHEN GEFAHR AUSZUSETZEN. Zweiteres gilt es natürlich zu verhindern!

MEIN FAZIT

Risky Play bedeutet, unseren Kindern in der freien Natur Raum und Zeit zu geben, sich selbst zu entdecken, spielerisch ihre eigenen Fähigkeiten auszutesten und schrittweise ihre natürlichen Ängste zu überwinden. Und ja, es erfordert auch Mut von uns erwachsenen Bezugspersonen, loszulassen und darauf zu vertrauen, dass unsere Kinder ihre selbstgewählten Herausforderungen meistern können. Doch die Belohnung sind selbstbewusste, starke und glückliche Kinder, die bereit sind, die Welt zu erobern, ohne dabei ihre natürlichen Grenzen außer Acht zu lassen. Schenken wir ihnen diese Möglichkeiten – und damit unser Vertrauen in ihre Fähigkeiten!

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