Blogbeitrag vom 23. September 2021

Eine Geschichte von Angst und Vertrauen

 

Die Idee unsere Website mit einem Blog zu erweitern, kam von einer Mitarbeiterin und ergänzend wurde mir mitgeteilt, dass es doch passend wäre, wenn ich als Geschäftsführer von Sicheres Vorarlberg den ersten Blogbeitrag verfassen könnte. Ich hätte dabei alle Freiheiten, wichtig sei nur, dass der Blog auf die Aufgaben von Sicheres Vorarlberg Bezug nehme und die persönliche Meinung des Verfassers wiedergebe.

Lange habe ich überlegt, wie ich diesen Vorgaben am besten gerecht werde und bin zum Entschluss gekommen, dass es am authentischsten sein wird, wenn ich über meine eigenen Erfahrungen schreibe. Dazu werden wir eine kleine Zeitreise unternehmen.

Wir schreiben das Jahr 1985. Ich, mittlerweile 11 Jahre alt, sitze auf einer Wiese oberhalb des Mellentales und schaue auf die 270 Rinder, die ich zusammen mit meinem Junghirtenkollegen Thomas, dem Hirten Georg und dem Hirtenhund Prinz hüten darf.

Wir genießen den wunderschönen Tag mit strahlend blauem Himmel, doch in kürzester Zeit wird der Himmel von dunklen Wolken überzogen und wie aus dem Nichts schlägt ein grellweißer Blitz im oberen Teil der Wiese ein, im gleichen Moment ertönt ein gewaltiger Donner, welcher die Erde beben lässt. Dann beginnt es zu hageln. Die Rinder nehmen Reißaus, springen aber in die falsche Richtung, dem Abgrund entgegen. Wir stehen zwischen dem Abgrund und der Herde, die auf uns zu rennt und fangen an zu rufen, besser gesagt zu schreien und schwingen unsere Stöcke. Ich schaue zu Georg, der mit unheimlicher Energie versucht, die Herde zu stoppen. Das gibt mir ein Gefühl des Vertrauens und mir wird klar, Georg wird uns nicht im Stich lassen. Nach einer gefühlten Ewigkeit und harter Arbeit schaffen wir es, die Herde zum Stehen zu bringen.

Wie knapp wir damals an einer Tragödie vorbeigeschrammt sind, ist mir erst viel später bewusst geworden

Wir haben das Jahr 1992 und ich mit meinen 18 Jahren absolviere mein drittes Lehrjahr als Zimmerer. Wir richten wieder einmal einen Dachstuhl auf. Wie meistens übernehme ich die Befestigung der Sparren auf der obersten Pfette am First. Ich bin stark genug, habe ein gutes Gleichgewicht und ich sage nicht nein. Warum auch? Der, der diese Arbeit macht, muss schon was besonderes leisten und ich fühle mich gut dabei.

Was aber niemand weiß ist, dass ich auch Angst habe, wenn ich auf ungefähr 10m Höhe auf einem 14cm breiten Balken arbeiten muss, wenn es z.B. nass ist oder ein Wind aufkommt. In diesen Momenten bin ich kein großer King, sondern ein ängstlicher junger Mann, der gerne eine andere Arbeit verrichten würde.

Ich spreche aber niemals darüber, nie mit meinen Vorarbeitern, nie mit meiner Verwandtschaft und schon gar nicht mit meinen Freunden. Ich will keine Schwäche zeigen, will stark sein, habe das Gefühl, viel zu verlieren, meinen Job, meine Freunde. Dafür gehe ich ein hohes Risiko und die Gefahr ein – lieber tot als schwach und ein Leben als Feigling.

2003 und ich mittlerweile 29 Jahre alt. Ich bin müde, sehr müde und ich tue mir schwer die Augen offen zu halten. Ich versuche mich auf den Lichtstrahl, der mir den Weg vorgibt, zu konzentrieren. Es muss so gegen 03.00 Uhr morgens sein. Das bedeutet, ich bin schon 15h am Fahren und es läuft wirklich gut, eigentlich so wie ich es mir in den letzten 12 Monaten immer wieder vorgestellt habe.

Ein Jahr lang habe ich mich intensiv auf diese 24h Mountainbike-Weltmeisterschaft in Whistler Mountain (Kanada) vorbereitet. Körperlich und mental topfit bin ich mit den rund 200 anderen Mitkonkurrenten um 12.00 mittags gestartet und habe nach 5 Stunden die Führung übernehmen und diese bis jetzt verteidigen können.

Ich befinde mich gerade im „rock garden“, einer technischen Schlüsselstelle und ich merke, wie die Müdigkeit einsetzt und die Augen immer schwerer werden – nur für eine Sekunde einmal die Augen schließen – ich bekomme ein Schlag auf`s Vorderrad, es überschlägt mich und ich komme irgendwo zwischen den großen Steinen zu liegen. Mein erster Blick geht zum Bike und ich habe Glück, das Licht brennt. Dann ein kurzer Check der Beine und Arme, passt so weit alles.

Die Endorphin-Ausschüttung funktioniert wieder und ich fahre die restlichen 9 Stunden fokussiert zu Ende und erfülle mir meinen Traum vom Weltmeistertitel.

Wir schreiben den 08.06.2008. Mein Team und ich befinden uns in Schottland in einem kleinen Dorf, welches sich Fort William nennt und etwas unterhalb von Loch Ness liegt. Wir arbeiten für den Weltradsportverband und sind für die Auf- und Abbauten bei den Mountainbike-Weltcuprennen zuständig.

Das meiste der rund 5 Tonnen Material ist, nachdem der letzte Fahrer im Ziel angekommen ist, schon abgebaut. Nun fehlt nur noch das Zielgerüst. Ich übernehme das Herunterlassen der Traverse und steige auf einen der zwei Türme. Nachdem die schwere Traverse ausgehängt ist, lasse ich diese mithilfe eines Seiles langsam Richtung Boden gleiten. Als die Hälfte geschafft ist, merke ich wie der ganze Turm nach innen kippt. Aus einer Reaktion heraus, lasse ich die Traverse fallen und springe über die Brüstung sechs Meter in die Tiefe.

Irgendwie komme ich mit Füßen, Gesäß und Rücken gleichzeitig auf und im gleichen Moment schlägt der Turm neben mir ein. Es fühlt sich komisch an. Ich liege am Boden und kann die Umgebung nicht wahrnehmen, auf der anderen Seite ist alles so real und intensiv. Ich sehe, dass meine Hose komplett nass ist und wundere mich, heute war doch ein sonniger Tag. Auch meine Hand sieht irgendwie nicht mehr ganz original aus und steht in eine andere Richtung weg.

Im ersten Moment verspüre ich keine Schmerzen und da bemerke ich, dass ich kein Gefühl mehr in den Beinen habe und jetzt wird mir auch bewusst, warum meine Hose nass ist. Irgendwo habe ich mal gehört, dass, wenn jemand eine Querschnittslähmung erleidet, er nichts spürt und den Harn nicht mehr halten kann. Als mir der Gedanke kommt, fange ich zu schreien an, laut und lang und mit jedem Schrei werden die Schmerzen im Rückenbereich größer und rauben mir fast den Verstand.

Nach vier Tagen im Spital von Fort William und einiges an Morphium werde ich nach Feldkirch überstellt, wo ich operiert werde. Von da an bin ich wegen der bleibenden Einschränkung im Handgelenk zwar als Teilinvalide eingestuft, aber ansonsten wird mit der Zeit alles wieder gut.

Ich war immer sehr darauf bedacht, dass alles sicher abläuft. An dem Tag hatte ich als Verantwortlicher zu wenig aufgepasst, zu wenig kontrolliert und nicht bemerkt, dass ein Helfer aus Schottland es zu gut gemeint hatte und die Verankerungen des Turmes zu früh entfernt hatte.

Wir haben eine teaminterne Besprechung bei Sicheres Vorarlberg und diskutieren über das Thema Sicherheit vs. Risiko. Argumenten folgen Gegenargumente und das Thema wird sehr kontrovers behandelt. Wir haben das Glück, dass unser Team aus verschiedensten Typen besteht, sowohl das Alter betreffend als auch was die Interessen in der Freizeit betrifft, was das ganze sehr lebhaft macht.

Ich frage mich, was wohl wäre, wenn jetzt der 11-, 18-, 29-, oder 34-jährige Mario mitdiskutieren würde. Es wären mit Bestimmtheit andere Argumente, die ich vorbringen würde, die aber mit Sicherheit auch nicht falsch wären, sondern nur aus einem anderen Blickwinkel betrachtet.

23 Jahre liegen zwischen den vier sehr unterschiedlichen Geschichten. Die Motivation für die verschiedenen Handlungen und die Gefühle dabei könnten nicht unterschiedlicher sein und trotzdem war es immer derselbe Mensch, der in jenem Augenblick das gemacht hat, was für ihn richtig erschien. Und genauso wie es für mich heute unerklärlich ist, wie ich damals als Jugendlicher die Arbeit auf dem Dach mit dieser Angst und der einzigen Motivation, nicht scheitern zu dürfen, durchführen konnte, hätte der damals 18-jährige Junge wahrscheinlich nur den Kopf geschüttelt, wenn man ihm gesagt hätte, was er später als Erwachsener einmal macht und wie er sich verhält.

Unser Ansatz bei Sicheres Vorarlberg wird es nie sein, mit erhobenem Zeigefinger und „gescheiten“ Sprüchen aufzutreten. Wir möchten es vorleben: Dass man die „Herausforderung Leben“ aktiv annehmen soll, die vorhandenen Risiken abschätzen und auch eingehen darf, zu gemachten Fehlern stehen soll, daraus lernen kann und somit Schritt für Schritt mehr „risk wise“ zu werden.

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